- Judentum: Zwischen Anpassung und Emanzipation
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Vernunft und Toleranz, die viel zitierten Ideale der Aufklärungszeit, brachten für die Mitglieder jüdischer Gemeinden in der Praxis zunächst nur geringe Verbesserungen, auch wenn die englischen Deisten sich anschickten, andere Religionsgemeinschaften endlich wohlwollender oder doch wenigstens unvoreingenommener zu betrachteten. Bereits John Locke, der das Judentum aus eigener Anschauung kannte, hatte sich mit seinem »Brief über Toleranz« von 1689 dafür eingesetzt, den Juden bürgerliche Rechte zuzuerkennen. Sein Landsmann John Toland verstand das Judentum als Teil einer umfassenden natürlichen Religion der Vernunft. In seinem Umfeld entstand wohl auch die bemerkenswerte Schrift »Gründe für die Naturalisierung der Juden in Großbritannien und Irland«, in der nicht nur mangelnde Bildung und Politik als auslösende Faktoren für die Fremdenfeindlichkeit gegenüber den Juden ausgemacht wurden, sondern sogar die Ansiedlung aller Festlandsjuden auf den britischen Inseln als Staatsziel propagiert wurde.Von diesen Vorstellungen war die Realität der Aufklärungszeit allerdings denkbar weit entfernt. Immer noch diktierte die Obrigkeit die Berufswahl der Juden, erließ Heiratsvorschriften, vergab oder verweigerte Wohnrechte und regelte vor allem die Besteuerung. In den Gemeinden hatten sich die wohlhabenden - und deswegen geduldeten - Familien und diejenigen Juden, die in einfachen Verhältnissen und damit im sozialen Abseits lebten, einander entfremdet. Nur überaus begüterte Familien konnten sich angesichts der Last der Steuern, Sonderabgaben und Zölle ein uneingeschränktes Aufenthaltsrecht überhaupt leisten. Sie selbst mussten ein Interesse daran entwickeln, den Zustrom ihrer weniger vermögenden Landsleute zu kontrollieren, da die Gemeinde als Ganze für die ordnungsgemäße Entrichtung der Abgaben bürgte. Diese Kreise waren es auch, die sich als erste an ihre nichtjüdische Umgebung anzugleichen suchten.Die Revolution in Frankreich und die amerikanische Unabhängigkeitserklärung brachten den Juden in Frankreich und Übersee scheinbar auf einen Schlag die volle Gleichberechtigung als Bürger. Und doch dauerte es in etlichen Staaten Amerikas noch viele Jahre, bis die Bürgerrechte auch praktisch umgesetzt wurden. Und die ersehnte Gleichheit in Europa war durchaus ambivalent, zielte sie doch - wie schon die Toleranzpatente unter Joseph II. in Österreich - eher auf Christianisierung und Assimilation: In der französischen Republik verloren die Juden mit den Benachteiligungen auch die wenigen Privilegien wie die Autonomie ihrer Gemeinden, der Gerichtsbarkeit oder die Befreiung vom Militärdienst. Die Befreiung der Juden aus ihren Ghettos in der Zeit Napoleons blieb eine kurzlebige Episode, der eine um so restriktivere Phase folgte; Napoleons Projekt eines eigenen Judenstaats blieb graue Theorie.Anders verlief die Entwicklung in Deutschland. Statt die Judengesetzgebung einfach aufzuheben, gewährte man den Juden freiheitliche Grundrechte erst nach einem langwierigen rechtlichen Angleichungsprozess, der erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts zum vorläufigen Abschluss kommen sollte. Die Grundlage für eine breite gesellschaftliche Diskussion über die Stellung der Juden schuf dabei der preußische Beamte Christian Wilhelm von Dohm. Dohmwollte 1781 in seiner Schrift »Über die bürgerliche Verbesserung der Juden« den jüdischen Gemeinden zwar volle Bürgerrechte einräumen, sie aber gleichzeitig verpflichten, sich Berufen in Landwirtschaft oder Handwerk zuzuwenden und stärker an ihrer Umgebung zu orientieren. Immerhin führte die aufkeimende Diskussion zu kleineren Erleichterungen: So durften sich Juden seit 1798 auch an Sonn- und Feiertagen auf der Straße zeigen und seit 1804 in Bayern öffentliche Schulen besuchen.Weniger aufgrund theoretischer Erwägungen als vielmehr aus der praktischen Notwendigkeit heraus, ein modernes Staatswesen ohne Ständeschranken, Zunftzwang und damit auch ohne Sondergesetze für die Juden zu errichten, folgten Gesetzgebungsinitiativen wie das Preußische Emanzipationsedikt aus dem Jahr 1812. Seine Freigabe von Wohnort, Grunderwerb und Militärdienst beschränkte sich allerdings zum einen auf bereits ansässige Juden, die Schutzrechte und Privilegien genossen, zum anderen war sie an Bedingungen wie feste Namenswahl oder Buchführung in deutscher beziehungsweise lateinischer Sprache geknüpft; auch weiterhin blieben die Juden von öffentlichen Ämtern ausgeschlossen. Im Gefolge der Revolution von 1848 nahm die Versammlung in der Frankfurter Paulskirche immerhin eine Bestimmung auf, derzufolge das religiöse Bekenntnis die (staats-)bürgerlichen Rechte »weder bedingt, noch beschränkt«. Der Prozess der Gleichstellung der Juden als Staatsbürger endete jedoch erst mit der Gründung des wilhelminischen Kaiserreichs in den Siebzigerjahren des 19. Jahrhunderts.Dass mit den rechtlichen Fortschritten und Emanzipationsmaßnahmen kein Bewusstseinswandel bei der Bevölkerung verbunden war, belegen die nach einem Spottruf gegen die Juden benannten »Hep!-Hep!-Unruhen«, in denen sich 1819 gesellschaftliche Gruppen, die ihre Stellung durch die Emanzipation der Juden in Gefahr sahen, zu Judenhetze in Flugblättern und gewalttätigen Plünderungen hinreißen ließen. Die von Würzburg ausgehenden Krawalle griffen in den folgenden Monaten - nicht ohne die Unterstützung oder stillschweigende Tolerierung durch die Stadtverwaltungen - auf Frankfurt am Main, Karlsruhe, Hamburg und andere Städte über, erreichten aber auch Prag, Krakau, Wien und Kopenhagen.Der Schock dieser Übergriffe, die übrigens kein Einzelfall blieben, traf gerade die jüdische Oberschicht, die als Hofjuden, Industrielle und Finanziers an Einfluss gewonnen hatten, und stellte sie vor die verhängnisvolle Alternative von Emigration oder Übertritt zum Christentum. Während zahllose Juden das Land verließen wie der bekannte Textilfabrikant Levi Strauss, dessen neuartige Arbeitshosen für Goldgräber und Farmer ihrem Erfinder Wohlstand in der Neuen Welt beschieden. Viele andere Juden wie der Vormärzdichter Heinrich Heine oder der Journalist Ludwig Börne sahen den einzigen Ausweg in der Aufgabe ihrer angestammten Religion.Einen dritten Weg wählte das Reformjudentum. Das gesellschaftlich aufgestiegene Bürgertum hatte bereits seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert auf eine Reform der jüdischen Schulbildung hingewirkt, in der Hebräisch und jüdische Religionslehre in einen ansonsten säkularen Fächerkanon integriert wurden. Führender theoretischer Kopf dieser Reformbewegung war der Mitbegründer der liberalen »Hochschule für die Wissenschaft des Judentums« Abraham Geiger, der das Judentum von Regeln und Riten entlasten wollte, die nicht zum Kernbestand des mosaischen Gesetzes gehörten. Weitere Reformen richteten sich auf die Modernisierung des Gottesdienstes nach protestantischem Vorbild mit Orgel, Chorgesang und Predigt. Radikalreformer waren sogar bereit, den Sabbat vom Samstag auf den Sonntag zu verlegen.Und doch blieb all diesen Bemühungen um Anpassung kein Erfolg beschieden, sie zerschellten am neu auflebenden Antijudaismus des 19. Jahrhunderts, der sich gleich mehreren Ursachen verdankt: So brachte die Romantik eine Betonung nationalen Gedankenguts, dessen volkstümlich-naive Judenfeindlichkeit von philosophischer Seite durch Fichte und Hegel, aber auch von Publizisten wie Görres und Arndt untermauert wurde. Pangermanische Visionen eines nationalen, christlichen Staates, in dem der jüdische »Staat im Staate« einen Fremdkörper bilde, verbanden sich bald mit pseudowissenschaftlichen Argumenten: Mit vorgeblich biologischen Unterschieden und damit »objektiven« Gründen für seine Geringschätzung und Abwertung machte man rassische Besonderheiten des jüdischen Volkes aus. Die ideologischen Grundlagen für die planmäbige Vernichtung von Juden als lebensunwertem Leben wurden schon lange vor dem Holocaust gelegt.Dr. Ulrich Rudnick
Universal-Lexikon. 2012.